Politeia (über Gerechtigkeit) Teil 2

Aus Andreas M Gross
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107. a) Suchen einer Kenntnis, die die Seele vom Werdenden zum Seienden führt

Willst du also, daß wir nun schon dieses überlegen, auf welche Weise wir zu solchen gelangen und wie man sie ans Licht heraufbringt nach Art einiger, von denen erzählt wird, sie seien aus der Unterwelt zu den Göttern hinaufgestiegen? - Wie sollte ich nicht wollen! sagte er. - Das ist nun freilich, scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der Seele, welche aus einem gleichsam nächtlichen Tage zu dem wahren Tage des Seienden jene Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen. - Allerdings. - Also müssen wir sehen, welche unter allen Kenntnissen eine solche Kraft habe? - Wie sollten wir nicht! - Welche Wissenschaft also, o Glaukon, könnte wohl ein solcher Zug sein für die Seele von dem Werdenden zu dem Seienden? Dieses aber fällt mir eben noch ein, indem ich rede: sagten wir nicht, unsere Herrscher müßten notwendig in ihrer Jugend wackere Kriegskämpfer sein? - Das sagten wir. - Also muß ja wohl die Wissenschaft, die wir suchen, auch dieses noch dazu haben außer jenem. - Was denn? - Kriegerischen Männern nicht unbrauchbar zu sein. - Das muß sie, wenn es angeht. - In der Gymnastik und Musik aber sind sie uns ja zuvor schon unterwiesen worden. - So war es, sagte er. - Und die Gymnastik hat es doch ganz mit einem Werdenden und Vergänglichen zu tun, denn sie führt Aufsicht über Wachstum und Verfall des Leibes. - Offenbar, - Diese also wäre nicht die gesuchte Wissenschaft. - Freilich nicht. - Aber etwa die Musik, wie wir sie früher beschrieben haben? - Aber die war ja, sagte er, ein Gegenstück zur Gymnastik, wenn du dich erinnerst. Sie erzog durch Gewöhnungen unsere Wächter, mittels des Wohlklanges eine gewisse Wohlgestimmtheit, nicht Wissenschaft, ihnen einflößend, und mittels des Zeitmaßes die Wohlgemessenheit, woneben sie in Reden noch anderes diesem Ähnliches hatte, mochten es nun die fabelhafteren sein oder die der Wahrheit verwandteren; eine Wissenschaft aber, die zu demjenigen gut ist, was du jetzt suchst, war wohl gar nicht in ihr. - Auf das genaueste, sprach ich, bringst du es mir in Erinnerung. Denn dergleichen hatte sie in der Tat nicht. Aber, bester Glaukon, wo wäre nun eine solche? Die Künste dünkten uns doch ingesamt unedel zu sein? - Freilich. Und was also für eine andere Kenntnis bleibt uns noch übrig, wenn Musik, Gymnastik und Gewerbskünste ausgeschlossen sind? -


Wohl, sagte ich, wenn wir außer diesen nichts mehr finden können: so laß uns etwas von dem nehmen, was sich auf sie alle bezieht. - Was doch? - Wie jenes Gemeinsame, dessen alle Künste und Verständnisse und Wissenschaften noch dazu bedürfen, was auch jeder mit zuerst lernen muß. - Was denn? sagte er. - Jenes Schlichte, sprach ich, die eins und zwei und drei zu verstehen; ich nenne es aber, um es kurz zusammenzufassen, Zahl und Rechnung. Oder ist es damit nicht so, daß jegliche Kunst und Wissenschaft daran teilnehmen muß? - Gar sehr, sagte er. - Nicht auch, sprach ich, die Kriegskunst? - Diese nun ganz notwendig, sagte er. - Wenigstens, sagte ich, den Agamemnon stellt doch in den Tragödien Palamedes immer als einen ganz lächerlichen Feldherrn dar. Oder besinnst du dich nicht, daß er sagt, nachdem er die Zahl ausgemittelt, habe er die Ordnungen dem Heer eingerichtet vor Ilion und die Schiffe und alles andere gezählt, als ob sie vorher ungezählt gewesen wären und Agamemnon, wie es scheint, nicht einmal gewußt habe, wieviel Füße er hatten, wenn er ja nicht zählen konnte. Und was für ein Feldherr muß er also wohl gewesen sein? - Ein gar abgeschmackter, sagte er, wenn das wahr ist. -

107. b) Geeignetheit bestimmter Wahrnehmungen zur Vernunftaufregung

Wollen wir also nicht festsetzen, daß für einen Kriegsmann Zählen und Rechnenkönnen eine notwendige Kenntnis sei? - Diese wohl vorzüglich, sagte er, wenn er nur etwas von den Aufstellungen verstehen, ja wenn er nur ein Mensch sein soll. - Denkst du nun, sprach ich, über diese Kenntnis eben das was ich? - Was denn? - Sie mag wohl zu dem auf die Vernunfteinsicht Führenden, was wir suchen, ihrer Natur nach gehören, niemand aber sich ihrer recht als eines auf alle Weise zum Sein Hinziehenden bedienen. - Wie, sagte er, meinst du das? - Ich will versuchen, sprach ich, deutlich zu machen, wie es mir vorkommt. Wie ich aber bei mir selbst unterscheide, was ein Leitmittel zu dem ist, wovon wir reden, und was nicht, das betrachte zuerst mit mir und stimme dann bei oder stimme ab, damit wir auch dieses deutlicher sehen, ob es so ist, wie mir ahnt. - Zeige es nur, sagte er. -


Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen einiges, was gar nicht die Vernunft zur Betrachtung auffordert, als werde es schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was auf alle Weise jene herbeiruft zur Betrachtung, als ob dabei die Wahrnehmung nichts Gesundes ausrichte. - Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur von ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. - Diesmal, sprach ich, hast du nicht so recht getroffen, was ich meine. - Was also, sagte er, meinst du denn? - Nicht auffordernd, sprach ich, ist das, was nicht in eine entgegengesetzte Wahrnehmung zugleich ausschlägt; was aber dazu ausschlägt, setze ich als auffordernd, weil die Wahrnehmung nun dieses um nichts mehr als sein Gegenteil kundgibt, sie mag nun von nahem darauf zukommen oder von weitem. So wirst du aber wohl deutlicher sehen, was ich meine. Dies, sagen wir also, wären drei Finger, der kleinste und hier der andere und der mittlere. - ja, sagte er. - Und denke, daß ich von ihnen als in der Nähe Gesehenen rede. Betrachte mir aber nun dieses an ihnen. - Was doch? - Ein Finger ist offenbar jeder von ihnen auf gleiche Weise, und insofern ist es ganz einerlei, ob man ihn in der Mitte sieht oder am Ende und ob er weiß ist oder schwarz, stark oder dünn, und was noch mehr dergleichen, denn durch alles dieses wird die Seele der meisten nicht aufgefordert, die Vernunft weiter zu fragen, was wohl ein Finger ist; denn nirgends hat ihnen derselbe Anblick gezeigt, daß ein Finger auch das Gegenteil von einem Finger ist. - Freilich nicht, sagte er. - Dies wäre also offenbar nicht die Vernunft auffordernd oder aufregend. - Offenbar nicht. -


Wie aber ihre Größe und Kleinheit? Sieht auch die das Gesicht hinreichend und so, daß es ihm keinen Unterschied macht, ob einer in der Mitte liegt oder am Ende? Und erkennt ebenso Dicke und Dünnheit, Weichheit und Härte das Gefühl? Und zeigen nicht ebenfalls die andern Sinne dergleichen alles nur mangelhaft an?


Oder geht es nicht jedem Sinne so, daß zuerst der über das Harte gesetzte Sinn auch über das Weiche muß gesetzt sein und der Seele wahrnehmend Hartes und Weiches als dasselbe meldet? - So ist es, sagte er. - Muß nun nicht hierbei die Seele zweifelhaft werden, als was ihr diese Wahrnehmung das Harte andeutet, wenn sie doch dasselbe weich nennt, und so auch die des Leichten und Schweren, als was doch leicht und schwer, wenn sie doch das Schwere als leicht und das Leichte als schwer kundgibt. - Freilich, sagte er, müssen diese Aussagen der Seele gar wunderlich erscheinen und näherer Betrachtung bedürftig. - Natürlich also versucht die Seele bei dergleichen zuerst, Überlegung und Vernunft herbeirufend, zu erwägen, ob jedes solche Angemeldete eins ist oder zwei. - Natürlich. - Und erscheint es als zwei, so ist doch jedes von beiden ein anderes und eines. - Ja. - Und wenn jedes von beiden eins ist und beide zwei, so erkennt sie doch zwei gesonderte, denn ungesondert würde sie nicht zwei erkennen, sondern eins. - Richtig. - Großes freilich und Kleines, sagten wir, sah auch das Gesicht, aber nicht gesondert, sondern als ein Vermischtes. Nicht wahr? - Ja. - Um aber dieses deutlich zu machen, ward die Vernunft genötigt, ebenfalls Großes und Kleines zu sehen, nicht vermischt, sondern getrennt, also auf entgegengesetzte Weise wie jenes. - Richtig. - Und nicht wahr, von daher fiel es uns zuerst ein, danach zu fragen, was wohl recht das Große und Kleine ist? - Allerdings. - Und so nannten wir dann das eine das Erkennbare, das andere das Sichtbare. - Ganz richtig, sagte er. -

107. c) Nutzen der Rechenkunst zur Bildung der philosophischen Seele

Dieses nun wollte ich auch jetzt sagen, daß einiges auffordernd für die Vernunft ist, anderes nicht; was nämlich in die Sinne fällt zugleich mit seinem Gegenteil, als auffordernd ansetzend, was aber nicht, als nicht erregend für die Vernunft. - Jetzt verstehe ich es schon, sagte er, und es dünkt mich auch so. - Wie nun? Die Zahl und die Einheit, zu welchem von beiden scheinen sie dir zu gehören? - Ich weiß nicht, sagte er. - Berechne es nur, sprach ich, nach dem Vorhergesagten. Denn wenn die Einheit deutlich genug an und für sich gesehen oder von sonst einem Sinne ergriffen wird - so könnte sie dann keine Hinleitung sein zum Wesen, eben wie wir von dem Finger sagten. Wenn aber mit ihr zugleich immer irgendein Widerspiel von ihr gesehen wird, so daß kein Ding mehr eins zu sein scheint als auch das Gegenteil davon; dann wäre schon eine weitere Beurteilung nötig, und die Seele würde darüber bedenklich werden müssen und, den Gedanken in sich aufregend, untersuchen und weiter fragen, was doch die Einheit selber ist. Und so gehörte dann die Beschäftigung mit der Einheit unter jene Leitenden und zur Beschauung des Seienden Hinlenkenden. - Eben dieses aber, sagte er, hat die Wahrnehmung, die es mit dem Eins zu tun hat, ganz besonders an sich. Denn wir sehen dasselbe Ding zugleich als eines und als unendlich vieles. - Wenn nun die Eins, sprach ich, so wird wohl die gesamte Zahl eben dieses an sich haben. - Allerdings. - Das Zählen aber und Rechnen hat es ganz und gar mit der Zahl zu tun. - Freilich. - Dies also zeigt sich als leitend zur Wahrheit. - Auf ganz vorzügliche Weise. - Und gehört also unter die Kenntnisse, die wir suchten. Denn dem Krieger ist es seiner Aufstellungen wegen notwendig, dieses zu verstehen; dem Philosophen aber, weil er sich dabei über das Sichtbare und das Werden erheben und das Wesen ergreifen muß, oder er ist doch nie der eigentliche Rechner. - So ist es, sagte er. - Unser Staatswächter aber ist ein Krieger und ein Philosoph. - Wie sollte er nicht! - So wäre denn die Kenntnis ganz geeignet, o Glaukon, sie gesetzlich einzuführen, und die, welche an dem Größten im Staate teilhaben sollen zu überreden, daß sie sich an die Rechenkunst geben und sich mit ihr beschäftigen, nicht auf gemeine Weise, sondern bis sie zur Anschauung der Natur der Zahlen gekommen sind durch die Vernunft selbst, nicht Kaufs und Verkaufs wegen wie Handelsleute und Krämer darüber nachsinnend, sondern zum Behuf des Krieges und wegen der Seele selbst und der Leichtigkeit ihrer Umkehr von dem Werden zum Sein und zur Wahrheit. - Sehr wohl gesprochen, sagte er.


Und nun, sprach ich, begreife ich auch, nachdem die Kenntnis des Rechnens so beschrieben ist, wie herrlich sie ist und uns vielfältig nützlich zu dem, was wir wollen, wenn einer sie des Wissens wegen betreibt und nicht etwa des Handelns wegen. - Wieso? sagte er. - Dadurch ja, was wir eben sagten, wie sehr sie die Seele in die Höhe führt und sie nötigt, mit den Zahlen selbst sich zu beschäftigen, nimmer zufrieden, wenn einer ihr Zahlen, welche sichtbare und greifliche Körper haben, vorhält und darüber redet. Denn du weißt doch, die sich hierauf verstehen, wenn einer die Einheit selbst im Gedanken zerschneiden will, wie sie ihn auslachen und es nicht gelten lassen; sondern wenn du sie zerschneidest, vervielfältigen jene wieder, aus Furcht, daß die Einheit etwa nicht als Eins, sondern als viele Teile angesehen werde. – Ganz richtig, sagte er. - Was meinst du nun, Glaukon, wenn jemand sie fragte: Ihr Wunderlichen, von was für Zahlen redet ihr denn, in welchem die Einheit so ist, wie ihr sie wollt, jede ganz jeder gleich und nicht im mindesten verschieden, und keinen Teil in sich habend? Was, denkst du, würden sie antworten? - Ich denke dieses, daß sie von denen reden, welche man nur denken kann, unmöglich aber auf irgendeine andere Art handhaben, - Siehst du also, sprach ich, Lieber, wie notwendig die Kenntnis uns in der Tat sein muß, da sie die Seele so offenbar nötigt, sich der Vernunft selbst zu bedienen zum Behuf der Wahrheit selbst? - Gar sehr freilich, sagte er, bewirke sie dieses. - Und wie? Hast du wohl dies schon bemerkt, wie die, welche von Natur Zahlenkünstler sind, auch in allen andern Kenntnissen sich schnell fassend zeigen, die von Natur Langsamen aber, wenn sie im Rechnen unterrichtet und geübt sind, sollten sie auch keinen andern Nutzen daraus ziehen, wenigstens darin alle gewinnen, daß sie in schneller Fassungskraft sich selbst übertreffen. - So ist es, sagte er. - Und gewiß auch, wie ich denke, wirst du nicht leicht vieles finden, was dem Lernenden und Übenden so viel Mühe machte als eben dieses. - Gewiß nicht. - Aus allen diesen Gründen also dürfen wir die Kenntnis nicht loslassen, sondern die edelsten Naturen müssen darin unterwiesen werden. - Ich stimme ein, sagte er. -

107. d) Förderlichkeit der Geometrie

Dies eine also, sprach ich, stehe uns fest. Das andere aber, was damit zusammenhängt, wollen wir auch sehen, ob uns das etwas nützt? - Welches? fragte er; oder meinst du die Meßkunst? - Eben diese, sprach ich. - Was nun an ihr auf das Kriegswesen Bezug hat, sagte er, so ist wohl offenbar, daß dieses nützt. Denn um Lager abzustecken, feste Plätze einzunehmen, das Heer zusammenzuziehen oder auszudehnen, und für alles, was die Richtung des Heeres in den Gefechten selbst und auf den Märschen betrifft, wird es einen großen Unterschied machen, ob einer ein Meßkünstler ist oder nicht. - Zu dem allen, sagte ich, ist freilich ein sehr kleiner Teil der Rechenkunst und der Meßkunst hinreichend; der größere und weiter vorschreitende Teil derselben aber, laß uns zusehen, ob der einen Bezug hat auf jenes, nämlich zu machen, daß die Idee des Guten leichter gesehen werde. Es trägt aber, sagten wir, alles dasjenige hierzu bei, was die Seele nötigt, sich nach jener anderen Gegend hinzuwenden, wo das Seligste von allem Seienden sich befindet, welches eben sie auf jede Weise sehen soll. - Richtig gesprochen, sagte er. - Also wenn die Meßkunst uns nötigt, das Sein anzuschauen, so nützt sie; wenn das Werden, so nützt sie nicht. - Das behaupten wir freilich. – Und dieses, sprach ich, wird uns wohl niemand, wer nur ein weniges von Meßkunst versteht, bestreiten, daß diese Wissenschaft ganz anders ist, als die, welche sie bearbeiten, darüber reden. - Wieso? - Sie reden nämlich gar lächerlich und notdürftig; denn es kommt heraus, als ob sie bei einer Handlung wären und als ob sie eines Geschäftes wegen ihren ganzen Vortrag machten, wenn sie quadrieren, eine Figur anfügen, hinzusetzen und was sie sonst für Ausdrücke haben; die ganze Sache aber wird bloß der Erkenntnis wegen betrieben. - Allerdings, sagte er, - Und ist nicht auch noch dies einzuräumen? - Was doch? - Daß wegen der Erkenntnis des immer Seienden, nicht des bald Entstehenden, bald Vergehenden? - Leicht einzuräumen, sagte er. Denn offenbar ist die Meßkunst die Kenntnis des immer Seienden. - Also, Bester, wäre sie auch eine Leitung der Seele zur Wahrheit hin und ein Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, daß man nämlich nach oben richte, was wir jetzt gar nicht geziemend nach unten halten. - So sehr als möglich tut sie das. - So sehr als möglich müssen wir also, sprach ich, darauf halten, daß dir die Leute in deinem Schönstaate der Geometrie nicht unkundig seien. Und auch der Nebengewinn davon ist nicht unbedeutend. - Welcher? - Dessen du erwähntest in bezug auf den Krieg; ja auch bei allen andern Kenntnissen, um sie vollkommener aufzufassen, wird ein gewaltiger Unterschied sein zwischen denen, die sich mit Geometrie abgegeben haben und die nicht. - Ein gänzlicher, beim Zeus, sagte er. - Also diese zweite Kenntnis wollen wir unserer Jugend aufgeben. - Das wollen wir. -

107. e) Astronomie und Stereometrie

Und wie? Die Sternkunde etwa als die dritte? Oder meinst du nicht? - Ich gewiß, sagte er. Denn die Zeiten immer genauer zu bemerken, der Monate sowohl als der Jahre, ist nicht nur dem Ackerbau heilsam und der Schiffahrt, sondern auch der Kriegskunst nicht minder. - Wie anmutig du bist, sprach ich, daß du scheinst die Leute zu fürchten, sie möchten meinen, du wolltest unnütze Kenntnisse aufbringen. Das aber ist die Sache, nichts Geringes, jedoch schwer zu glauben, daß durch jede dieser Kenntnisse ein Sinn der Seele gereinigt wird und aufgeregt, der unter anderen Beschäftigungen verlorengeht und erblindet, obwohl an dessen Erhaltung mehr gelegen ist als an tausend Augen; denn durch ihn allein wird die Wahrheit gesehen. Die nun dieser Meinung auch sind, werden deine Rede, es ist nicht zu sagen wie, vortrefflich finden; die aber hiervon noch nichts irgend gemerkt haben, werden ganz natürlich glauben, daß du nichts sagst. Denn einen andern Nutzen, der der Rede wert wäre, sehen sie nicht dabei. So sieh nun lieber gleich, zu welchen von beiden du redest, oder ob du für keinen von beiden Teilen, sondern deiner selbst wegen vorzüglich die Sache untersuchst, nur aber auch niemanden mißgönnen willst, wer etwa noch einen Nutzen davon haben kann. - So, sprach er, will ich am liebsten, vorzüglich meiner selbst wegen, reden sowohl als auch fragen und antworten. - So lenke denn, sprach ich, wieder zurück. Denn nicht richtig haben wir jetzt eben das Nächste an der Meßkunde angegeben. - Wieso, fragte er. - Indem wir, sprach ich, nach der Fläche gleich den Körper in Bewegung nahmen, ohne ihn zuvor an und für sich betrachtet zu haben. Und es wäre doch recht, nach der zweiten Ausdehnung die dritte zu nehmen. Diese hat es aber zu tun mit der Ausdehnung des Würfels und mit allem, was Tiefe hat. - Richtig, sagte er. Aber dies, o Sokrates, scheint noch nicht gefunden zu sein. - Und zwar, sprach ich, aus doppelter Ursache; sowohl weil kein Staat den rechten Wert darauf legt, wird hierin nur wenig erforscht bei der Schwierigkeit der Sache, als auch bedürfen die Forschenden eines Anführers, ohne den sie nicht leicht etwas finden werden, und der wird sich zuerst schwerlich finden, und wenn er sich auch fände, würden ihm, wie die Sache jetzt steht, die, welche in diesen Dingen forschen, weil sie sich selbst zuviel dünken, nicht gehorchen. Wenn aber ein ganzer Staat sich an die Spitze stellte, der die Sache gehörig zu schätzen wüßte: so würden sowohl diese gehorchen, als auch die Sache würde, wenn anhaltend und angestrengt untersucht, wohl ans Licht kommen müssen, wie sie sich verhält, da sie schon jetzt, wiewohl von den meisten gar nicht geachtet, sondern eher gehemmt, auch von den Forschenden selbst, welche die rechte Einsicht nicht haben, wieweit sie nützlich ist, dennoch dem allen zum Trotz vermöge ihres innern Reizes gedeiht und man sich gar nicht wundern muß, daß sie ans Licht gekommen ist. - Anziehend, sagte er, ist sie freilich ganz besonders. Aber erkläre mir noch deutlicher, was du eben meintest. Die ganze Lehre von den Ebenen nanntest du doch Geometrie. - Ja, sprach ich. - Und dann zunächst ihr erst die Astronomie, darauf aber lenktest du um. - Eilfertig, sprach ich, alles recht schnell durchzunehmen, verspätete ich mich vielmehr. Denn obschon die Methode, die Tiefe oder das Körperliche zu finden, das nächste war, übersprang ich diese, weil es mit der Untersuchung noch lächerlich steht, und nannte nächst der Meßkunde die Sternkunde, die es mit der Bewegung des Körperlichen zu tun hat. - Richtig gesprochen. - So wollen wir denn, sprach ich, die Sternkunde als die vierte setzen, als würde die jetzt ausgelassene sich schon einstellen, wenn nur ein Staat sich darum bekümmerte. - Natürlich! sagte er. Und was du mir eben tadeltest, o Sokrates, wegen der Sternkunde, daß ich sie auf gemeine Art gelobt, so will ich sie jetzt, so wie du sie auch treibst, loben. Denn das dünkt mich jedem deutlich, daß diese die Seele nötigt, nach oben zu sehen, und von dem Hiesigen dorthin führt. - Vielleicht, sprach ich, ist es jedem deutlich außer mir; denn mir scheint es nicht so. - Sondern wie? - Daß sie, wie sich jetzt die, welche zur Philosophie hinaufführen wollen, mit ihr beschäftigen, gerade unterwärts sehen macht. - Wie meinst du das? fragte er. - Gar vornehm, sprach ich, scheinst du mir die Kenntnis von dem, was droben ist, bei dir selbst zu bestimmen, was sie ist. Denn du wirst wohl auch, wenn einer Gemälde an der Decke betrachtet und hinaufgereckt etwas unterscheidet, glauben, daß der mit der Vernunft betrachtet und nicht mit den Augen. Vielleicht nun ist deine Ansicht die rechte, meine aber einfältig. Denn ich kann wieder nicht glauben, daß irgendeine andere Kenntnis die Seele nach oben schauen mache als die des Seienden und Unsichtbaren, und wenn einer nach oben gereckt oder nach unten blinzelnd nur irgend Wahrnehmbares zu lernen trachtet: so leugne ich sogar, daß er je etwas lerne, weil es von nichts dergleichen eine Wissenschaft gibt, und behaupte, daß seine Seele nicht aufwärts schaue, sondern nur unterwärts, und wenn er auch ganz auf dem Rücken liegend lernte zu Lande oder zu Wasser. -

107. f) Entwurf einer wahrhaft nützlichen Astronomie

Da ist mir recht geschehen, sagte er, und wohlverdient hast du mich gescholten. Aber wie, meinst du, müsse man die Sternkunde anders lernen, als jetzt geschieht, wenn sie mit Nutzen für das, was wir meinen, erlernt werden soll? - So, sprach ich, daß man diese Gebilde am Himmel, da sie doch im Sichtbaren gebildet sind, zwar für das beste und vollkommenste in dieser Art halte, aber doch weit hinter dem Wahrhaften zurückbleibend, nämlich den Bewegungen, in welchen die Geschwindigkeit, welche ist, und die Langsamkeit, welche ist, sich nach der wahrhaften Zahl und allen wahrhaften Figuren gegeneinander bewegen und was darin ist forttreiben, welches alles nur mit der Vernunft zu fassen ist, mit dem Gesicht aber nicht. Oder meinst du etwa? - Keineswegs wohl. - Also, sprach ich, jene bunte Arbeit am Himmel muß man nur als Beispiele gebrauchen, um jenes zu erlernen, wie wenn einer auf des Daidalos oder eines andern Künstlers oder Malers vortrefflich gezeichnete und fleißig ausgearbeitete Vorzeichnungen trifft. Denn wenn einer, der sich auf Meßkunde versteht, diese sieht, so wird er wohl finden, daß sie vortrefflich gearbeitet sind, aber es doch lächerlich sei, diese im Ernst darauf anzusehen, als ob man darin das Wesen des Gleichen oder Doppelten oder irgendeines anderen Verhältnisses fassen könnte. - Wie sollte das nicht lächerlich sein! sagte er. - Meinst du nun nicht, sprach ich, es werde dem wahrhaft Sternkundigen ebenso ergehen, wenn er die Bewegungen der Gestirne betrachtet? Er werde zwar glauben, so vortrefflich nur immer dergleichen Werke zusammengesetzt sein können, sei gewiß von dem Bildner des Himmels dieser und was in ihm ist auch zusammengesetzt; aber das Verhältnis der Nacht zum Tage und dieser zum Monat und des Monates zum Jahr und der andern Gestirne zu diesen und unter sich, meinst du nicht, er werde den für ungereimt hatten, welcher behauptet, diese erfolgen immer auf die gleiche Weise, ohne je um das mindeste abzuweichen, die doch Körper haben und sichtbar sind, und man müsse auf jede Weise versuchen, an ihnen das Wesen zu erfassen? - Das dünkt mich nun auch, sprach er, da ich dich höre. - Also, sprach ich, um uns der Aufgabe zu bedienen, welche sie darbietet, wollen wir wie die Meßkunde so auch die Sternkunde herbeiholen, was aber am Himmel ist, lassen, wenn es uns anders darum zu tun ist, wahrhaft der Sternkunde uns befleißigend das von Natur Vernünftige in unserer Seele aus Unbrauchbarem brauchbar zu machen. - Da gibst du vielmal mehr zu tun, als jetzt bei der Sternkunde geschieht. - Und ich denke wohl, sagte ich, wir werden es mit allem andern ebenso einrichten müssen, wenn wir als Gesetzgeber etwas nütze sein wollen.

107. g) Brauchbarkeit der Wissenschaft der Harmonie

Aber was hast du nun noch in Erinnerung zu bringen von hierher gehörigen Kenntnissen? - Nichts jetzt sogleich, sagte er. - Aber die Bewegung selbst, sprach ich, stellt uns nicht eine, sondern mehrere Arten dar; sie nun insgesamt mag ein Sachkundiger auszuführen wissen, die aber auch uns gleich auffallen, deren sind zwei. - Was für welche? - Es scheinen ja, sprach ich, wie für die Sternkunde die Augen gemacht sind, so für die harmonische Bewegung die Ohren gemacht und dieses zwei verschwisterte Wissenschaften zu sein, wie die Pythagoräer behaupten und wir zugeben, oder wie sonst tun? - Zugeben. - Also, sprach ich, weil das eine weitläufige Sache ist, wollen wir nur von jenen vernehmen, was sie darüber sagen, und ob noch etwas anderes zu diesem; wir aber wollen außer dem allen das unsrige wohl in acht nehmen. - Was doch? - Daß nicht unseren Zöglingen einfalle, etwas hiervon unvollständig zu lernen, so daß es nicht jedesmal dahin ausgeht, worauf alles führen soll, wie wir eben von der Sternkunde sagten. Oder weißt du nicht, daß sie es mit der Harmonie ebenso machen?


Wenn sie nämlich die wirklich gehörten Akkorde und Töne gegeneinander messen, mühen sie sich eben wie die Sternkundigen mit etwas ab, womit sie nicht zustande kommen. - Bei den Göttern, sagte er, und gar lächerlich halten sie bei ihren sogenannten Heranstimmungen das Ohr hin, als ob sie in der Nachbarschaft eine Stimme erlauschen wollten, wobei denn einige behaupten, sie hörten noch einen Unterschied des Tones, und dies sei das kleinste Intervall, nach welchem man messen müsse, andere aber leugnen es und sagen, sie klängen nun schon ganz gleich, beide aber halten das Ohr höher als die Vernunft. - Du, sprach ich, meinst jene Guten, welche die Saiten ängstigen und quälen und auf den Wirbeln spannen. Damit aber die Erzählung nicht zu lang werde, will ich dir die Schläge mit dem Hammer und das Ansprechen und Versagen und die Sprödigkeit der Saiten, diese ganze Geschichte will ich dir schenken und leugne, daß diese Leute etwas von der Sache sagen, sondern vielmehr jene, von denen wir eben sagten, wir wollten sie der Harmonie wegen befragen. Denn diese hier machen es ebenso wie jene Astronomen, nämlich sie suchen in diesen wirklich gehörten Akkorden die Zahlen, aber sie steigen nicht zu Aufgaben, um zu suchen, welches harmonische Zahlen sind und welches nicht, und weshalb beides. - Das ist auch, sagte er, eine gar wunderliche Sache. - Sehr nützlich allerdings, sprach ich, für die Auffindung des Guten und Schönen, wenn man sie aber auf andere Weise betreibt, ganz unnütz. - Wahrscheinlich wohl, sagte er. -


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